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Transatlantic
Freedom Suite Tentet
29 August 2009, 20 Uhr, Oper/ Leipzig 04109,
Augustusplatz 12
Wadada Leo Smith - Trompete, Flügelhorn
Axel Dörner - Trompete, Gleittrompete
Ernst-Ludwig Petrowsky - Altsaxofon, Rumänische Hirtenflöten
Urs Leimgruber - Sopransaxofon, Tenorsaxofon
Axel Andrae - Fagott
Oliver
Schwerdt - Konzertflügel
Barre Phillips - Kontrabass
Michael Haves - Kontrabass
Christian
Lillinger - Schlagzeug
Günter Baby Sommer - Schlagzeug
Künstlerische Leitung: Günter
Baby Sommer
Konzeption: Oliver Schwerdt
Grandiose
Suite als befreiende musikalische Grenzöffnung
mit akustisch-instrumentellen Experimenten
2
Kontinente, 4 Länder. 8
Jahrzehnte. 4 Generationen. 3 Paradigmatische Spielweisen.
Idee
des eigens für die 33. Leipziger Jazztage initierten
Projektensembles Transatlantic Freedom Suite Tentet ist, auf spezielle
Weise an die Friedliche Revolution im Leipziger Herbst 1989 zu
erinnern, dem Streben nach Freiheit im gesellschaftlichen Zusammenleben.
Korrespondiert doch der vor 20 Jahren demonstrierte Freiheitsgedanke
in besonderer Weise mit freiheitlichen musikalischen Ausdrucksweisen
von Jazz und improvisierter Musik: grenzüberschreitend – Konventionen
aufbrechend und kulturelle Schranken überwindend – sowie
individuelle Künstlerschaft zu neuer musikalischer Qualität
im Ensemble zusammenführend. Ein Blick in die Jazzgeschichte
zeigt, Spielen und Hören von Jazzmusik kann mehr als „nur“ ein
Klangerlebnis sein. John Coltrane, Sonny Rollins, Charles Mingus,
Sun Ra, Abbey Lincoln, Max Roach … haben ihre Musik mit einer
politischen Botschaft verbunden.
Nicht
von ungefähr steht das Wort Freedom im Namen der Festivalband.
Ist doch das 1960 von Max Roach aufgenommenen Konzeptalbum “We
Insist! Freedom Now Suite“ als ein künstlerisch-gesellschaftlich
motivierendes Schlüsselerlebnis für das Schaffen seines
Leiters Günter Baby Sommer zu verstehen. Anknüpfend an
die “Freedom Suite“ von Sonny Rollins (1958) hatte
Max Roach damit die politische Botschaft der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung
auf überzeugende Weise zum Ausdruck gebracht.
Die
Leipziger Jazztage wollen in ihrem 33. Jahrgang mit dem Projektensemble
zudem im Bewusstsein
halten,
dass sie von Anfang an nicht nur für
musikalisch hochkarätige Beiträge stehen, sondern auch
für nonkonformistische gesellschaftliche Strömungen einer
alternativen, von den ostdeutschen Obrigkeiten beargwöhnten
Gegenkultur.
Zum Geschehen von 1989 hat das Festival einen besonderen Bezug.
Die spannungsgeladene Stimmung des Leipziger Herbstes war auch
im Vorfeld der Friedlichen Revolution während der 14. Leipziger
Jazztage 1989 in der letzten Septemberwoche allenthalben zu spüren. Überall
absurdes Agieren staatlicher Organe. Kurz vor Öffnung der
Grenzen in Europa kommt infolge von Visaproblemen der bis zuletzt
erhoffte Auftritt des US-amerikanischen Schlagzeugers Ronald Shannon
Jackson nicht zustande. Die Einreise des World Peace Duo mit Saxofonist
Keshavan Maslak (USA) und dem sowjetischen Pianisten Mikhail Alperin
wird verhindert. Ein geplantes Auftreten der Westberliner Band
Einstürzende Neubauten wurde von DDR-Funktionären schon
vor dem Festival mit fadenscheiniger Begründung abgeblasen.
Saxofonist Ernst-Ludwig Petrowsky – Mitglied des diesjährigen
Ensembles – drückt während seines Konzertes auf
der großen Bühne im Capitol sein Missbehagen über
die Lage im Lande aus, spricht dabei über Abhörpraktiken
der Stasi. Atemloser Stille im Saal folgt befreiter Jubel des Jazztage-Publikums.
Auswärtige Musiker sind bei der nächtlichen Festival-Abschlussfeier überrascht
von der Offenheit und Konsequenz der Diskussion über die aktuelle
politische Situation. Einige verlängern kurzfristig ihren
Aufenthalt und nehmen am 2. Oktober 1989 zusammen mit Festivalorganisatoren
beeindruckt an der Montagsdemonstration von etwa 15 000 Menschen
teil.
Das
Transantlantic Freedom Suite Tentet repräsentiert die
transatlantische Verortung des zeitgenössischen Jazz und bezeugt
die Komplexität seiner kreativen Entwicklung bis in die Gegenwart.
1933 und 1984 - so die Geburtsjahre des ältesten und des jüngsten
Musikers des Ensembles. Vier Generationen finden sich zusammen,
um die Freiheit einer Gegenwart reflektierenden und zugleich in
die Zukunft gerichteten Musik darzustellen!
Die Bewegung des Free Jazz in den USA konzentrierte sich auf zwei
urbane Zentren. Zunächst New York, später Chicago. Nach
einer ersten Phase, in der Melodie, Harmonie und Metrum energetisch
derart gesteigert wurden, dass die dynamisierenden Kräfte
die traditionellen Formen entgrenzten (Paradigma I), traten die
dann entfesselten Klänge während einer zweiten Phase
in eine atemberaubend neuartige Musiklandschaft ein (Paradigma
II). Die aus dem Moment heraus entstehenden, einzig den musikalischen
Impulsen der Mitspieler verbundenen Kollektiv-improvisationen eröffneten
in der Logik eines Umkehrschlusses jedem einzelnen Instrument,
dem unbegleiteten Solisten, weite Entfaltungsräume.
Barre
Phillips (*1934) war 1965 als Kontrabassist im Ensemble des Coltrane-Jüngers
Archie Shepp einer der Aktivisten der New Yorker Szene. Trompeter
Wadada
Leo Smith (*1941)
wurde neben
Anthony Braxton zu einer zentralen Figur des Chicagoer Kreises.
Beide Phasen haben sich in Europa fortgepflanzt. Barre Phillips
ließ sich sogar in Südfrankreich nieder. Aber auch und
gerade im Osten Deutschlands - zu erinnern sei an die Geltung der
DDR als das vielfach gepriesene Paradies des freien Jazz - erhielten
sowohl der expressive Dynamismus als auch der Klangreichtum einer
fragmentierten, sich im Transitorischen immer wieder neu strukturierenden
Musik unüberhörbare Prägnanz.
Schon zu den 1. Leipziger Jazztagen 1976 – die sich seitdem
verpflichtet fühlen, immer wieder auch neue musikalische Entwicklungen
aufzuspüren – waren sowohl Ernst-Ludwig Petrowsky (*1933)/(Deutscher
Jazzpreis 1997) als auch Günter Baby Sommer (*1943)/(Kunstpreis
der DDR 1985) zu hören. Beflügelte Petrowsky in dieser
Zeit die einige Jahre zuvor in New York mit dem Saxofon in Bewegung
gesetzten Tonfolgen zu glissandierenden Klangbändern, so ließ Sommer
wenig später die verdichtenden Spielprozesse hinter sich,
um mit erweitertem Schlagwerk in ungeahnte Klangbereiche vorzudringen.
Von Coltrane aus, lässt sich die Europäisierung des Jazz
bezüglich des Saxofonspiels über Evan Parker bis zum
Schweizer Urs Leimgruber (*1952)/(Kunst- und Kulturpreis der Stadt
Luzern 2004) verfolgen. Nach der Expressivität und Fragmentierung
wird die mit dem Prozess der Erweiterung von instrumentalen Spielweisen
einhergehende Komplexitätssteigerung im Übergang zu einer
reduktiven Ästhetik erfahrbar.
Trompeter Axel Dörner (*1964)/(SWR-Jazzpreis 2006) zeigt dies
durch seine Kultivierung nicht bloß frappierender Geräusche,
sondern vielmehr differenzierter Rauschfelder. Die Entwicklung
der Trompete von einem einfachen Signal- und Melodieerzeuger zum
Instrument faszinierender Hörflächen, zeugt von der unbestechlichen
Innovationskraft des Jazz (Paradimga III).
Kontrabassist Michael Haves (*1978)/(Preis der Deutschen Akademie
der Darstellenden Künste 2005), Pianist Oliver Schwerdt (*1979)/(Leipziger
Jazznachwuchspreis 2006) und Schlagzeuger Christian Lillinger (*1984)/(Preisträger
Internationaler Improvisationswettbewerb Leipzig 2000) haben durch
ihre vielfältige Zusammenarbeit mit maßgeblichen Exponenten
des zeitgenössischen Jazz wertvolle Spielerfahrungen gesammelt,
welche sie befähigen, die innovative Tradition dieser Musik
in die Gegenwart, gemeint ist auch die zukünftige, fortzuschreiben.
Als Solitär des Ensembles wirkt der herausragende Fagottist
Axel Andrae (*1965)/(Preisträger internationaler Wettbewerbe
Toulon, Manchester, Markneukirchen) symbolisch als Referenzpunkt
an die Praktiken zeitgenössisch komponierter Musik, welche
seit Jahrzehnten produktiven Einfluss auf die Entwicklung des zeitgenössisches
Jazz nimmt.
Die Musiker des Transantlantic Freedom Suite Tentets sind auf Grund
ihres improvisatorischen Talents und ihrer Vertrautheit mit musikalischen
Herausforderungen in der Lage, über die in ihrer jeweiligen
Generation wurzelnden und von diesen historischen Standpunkten
aus entwickelten primären ästhetischen Orientierungen
hinaus zu interagieren und dabei ein Netzwerk zu entfalten, mit
dem Unerhörtes hörbar wird. Dabei entsprechen die musikalischen
Bezüge der Akteure zueinander früheren kollektiven Erkundungen.
Chronologisch wie stenographisch überblickt, bietet sich folgende
beeindruckende Vorgeschichte des Tentets: seit 1974 Ernst-Ludwig
Petrowsky und Günter Sommer; seit 1979 Leo Smith und Günter
Sommer; seit 1988 Barre Phillips und Günter Sommer; seit 2001
Barre Phillips und Urs Leimgruber; seit 2002 Oliver Schwerdt und
Günter Sommer; seit 2004 Urs Leimgruber, Oliver Schwerdt und
Christian Lillinger; seit 2005 Barre Phillips und Leo Smith; seit
2005 Günter Sommer, Christian Lillinger und Michael Haves;
seit 2006 Ernst-Ludwig Petrowsky, Christian Lillinger und Oliver
Schwerdt; seit 2008 Urs Leimgruber, Axel Dörner und Christian
Lillinger.
Lebenserfahrung verdichtet sich im Jazz, amerikanische mit europäischer
Bewegung in zeitgenössisch improvisierter Musik. Eigenheiten
von vier nationalen Szenen verbinden sich mit Charakteristika von
vier Generationen. Die Multidimensionalität des Jazz wird
realistisch integriert.
Steffen
Pohle / Oliver Schwerdt
Ihr Oliver Schwerdt,
erwartet wieder FETT!
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